ReportageGrand Brûlé : Hundert Jahre alt und noch immer an der Spitze des Walliser Weinbaus

Sortieren, Beere für Beere, so lautet der heutige Auftrag. Es ist Anfang Oktober und im Weingut Grand Brûlé werden die ersten Parzellen Pinot Noir geerntet. Obwohl es vorhersehbar war, ist die magere Ausbeute dennoch schmerzhaft: Das schlechte Wetter und eine Pilzkrankheit haben den Rotweintrauben arg zugesetzt. Angélique Délèze, jüngst zur neuen Kulturchefin ernannt, erlebt ihre Feuertaufe – und was für eine!

«Für eine erste Weinlese ist das wirklich eine sehr grosse Herausforderung. Aber ich denke, dass wir dem Kellermeister durch das Sortieren doch Beeren von Qualität bringen können und etwas Wundervolles herausholen werden. Ich bleibe optimistisch.»

Eddy Dorsaz, Kellermeister

Der Rest spielt sich im Keller ab. Abbeeren, Einmaischen, Mazeration; von hier an übernimmt Eddy Dorsaz. Der Kellermeister betont die Bedeutung des Rohstoffes. Für den Fachmann hängt ein guter Tropfen zu 95 % von der Qualität der Traube ab: «Im Weinkeller beträgt unser Einfluss auf einen Wein noch 5 %. Wir müssen die richtigen Vinifikationstechniken einsetzen, um die Trauben nicht zu denaturieren und ihnen etwas mehr Körper, etwas mehr Farbe zu verleihen. Das Hauptziel ist, zumindest für mich, so wenig wie möglich einzugreifen.» Winzer und Kellermeister sind somit aufeinander angewiesen; im Domaine du Grand Brûlé wie auch anderswo.

Das Hauptziel ist, zumindest für mich, so wenig wie möglich einzugreifen.

Die diesjährige Weinlese ist ein geschichtlicher Meilenstein. Der Kanton Wallis hat den Weinberg im Jahr 1921 erworben, also vor genau einem Jahrhundert. «Für ein Walliser Weingut ist das eine lange Zeit. Auf Westschweizer oder Schweizer Ebene dürften wir um die zehn Weingüter sein, die auf ein ganzes Jahrhundert zurückblicken können», unterstreicht Eddy Dorsaz.

Die grossen Werke (AVIA, Fotografische Fotosammlung von Henry Wuilloud)
(AVIA, Fotografische Fotosammlung von Henry Wuilloud)

Die weitläufige Parzelle im Gemeindegebiet von Leytron erstreckt sich auf über elf Hektar, eingebettet zwischen einem Bach und einem Fluss, der Losentze und dem Rotten. «Das Weingut wurde in erster Linie zur Produktion amerikanischer Reben während der Reblausplage um 1900 gegründet. Danach widmete man sich dem Schutz der typischen Walliser und der Einführung neuer Rebsorten», fährt der Kellermeister fort.

Das Weingut Grand Brûlé ist ein Freiluftlabor und war von Beginn an federführend im Weinanbau. In erster Linie ist es dafür da, die Walliser Winzer und Kellermeister in ihrem Tun zu beraten und zu unterstützen.

Der Zweck des Weinguts bleibt unverändert, während sich die Branche stetig weiterentwickelt. So finden hier auch Frauen allmählich ihren Platz und ihre Verantwortung. Dies kann Angélique Délèze ebenfalls bezeugen. Seit vergangenem Sommer ist sie für die Reben des Grand Brûlé verantwortlich. Die 26-Jährige ist die erste weibliche Kulturchefin seit 1921 und gesellt sich somit zu Marie-Thérèse Chappaz, Corinne Clavien und Sandrine Caloz – der Frauenanteil in der Weinwirtschaft wächst. Und das ist laut Angélique Délèze auch gut so: «Die Winzerinnen bringen eine weiche Seite ein. Den Männern schadet das nicht, denke ich. Diese weiche Seite setzt sich in den Finessen der Verkostung und in der Arbeit im Weinberg fort. Frauen sind womöglich auch empfänglicher für den ökologischen und biodynamischen Anbau. Das dürfte auch einige Männer motivieren.»

 

Die Winzerinnen bringen eine weiche Seite ein.
Angélique Délèze, Weingutsleiterin

In den vergangenen hundert Jahren hat sich die Rolle der Frau verändert, ebenso wie der Stellenwert der Ausbildung. Seit 1921 wurde der Beruf spürbar weiterentwickelt. Weinbau und Weinkunde lernt man heute im Rahmen einer Berufslehre, auf einer Fachschule oder sogar einer Fachhochschule. Angélique Délèze hat die Fachhochschule Changins besucht und als diplomierte Weinbautechnikerin HF abgeschlossen, nachdem sie zwei EFZ, als Weintechnologin und als Winzerin, erworben hatte. «In Changins habe ich Kurse in Önologie und Weinbau besucht und habe Marketing sowie Personalführung gelernt», erklärt die neue Weingutsleiterin.

Auch Eddy Dorsaz hat sich in Changins weitergebildet: Mit seinem Diplom als Kellermeister ist er der erste eidgenössisch Diplomierte der Staatskellerei.

Parallel zur Ausbildung verändert sich auch das gesamte Know-how. «Im Weinkeller hat sich zwischen 1921 und heute vor allem die Hygiene verbessert. Sauberkeit ist zur Selbstverständlichkeit geworden. In dieser Hinsicht waren die Edelstahltanks ein Wendepunkt in der Branche.» Neben der Erreichung dieser Hygiene-Standards wurde der Beruf auch zusehends automatisiert. Die Tanks sind gewissermassen selbstreinigend geworden und die Pressen druckluftbetrieben. «Die pneumatischen Pressen ermöglichen ein schonendes Pressen. Der Traubenmost wird dadurch noch besser, und der Trester muss nicht gelockert werden. Alles ist automatisiert. Diese Technik spart uns eine Menge Zeit», freut sich Eddy Dorsaz.

Sortieren, Beere für Beere. Im Rebberg geht die Pinot-Noir-Lese weiter. Für Angélique ist das sehr zeitaufwändig: «Für eine Rebzeile von 100 Metern benötigt eine Person normalerweise eine Stunde. So hingegen, wenn wir richtig sortieren wollen, dauert es dreimal so lange.»

 

So hingegen, wenn wir richtig sortieren wollen, dauert es dreimal so lange.

Im Domaine Grand Brûlé hatte der Pinot Noir über die Jahrzehnte einen unterschiedlichen Stellenwert. Bereits 1921 stand diese geschichtsträchtige Rebsorte im Rampenlicht. Doch heute macht eine andere Sorte dem Pinot Noir seinen Platz streitig, der neue Stern am Weinhimmel, der Cornalin. Seit kurzem gesteht das staatliche Weingut dem Cornalin (14’000 m2) mehr Platz als dem Pinot Noir (12’000 m2) zu.

Das Flaggschiff unter den Weissweinen heisst Arvine. «Zweifelsohne sind die Stars des Weinguts heute die Petite Arvine und der Cornalin. Dies verdanken sie ihrem einzigartigen Aroma und der Tatsache, dass es einheimische Rebsorten sind», erklärt die neue Gutschefin.

Was gestern das einzig Wahre war, ist es heute nicht mehr unbedingt. Dies gilt auch für die Produktionsverfahren. Im Domaine Grand Brûlé hat man sich bewusst für den biologischen Anbau entschieden. Dieser neue Ansatz wurde bereits auf mehr als der Hälfte des Weinguts umgesetzt. «Die Herausforderung besteht darin, die Qualität aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die Anzahl der Produkte zu reduzieren. Die Branche wird immer umweltbewusster. Viele Winzer verfolgen diesen Weg. Unsere Aufgabe ist es, sie dabei zu unterstützen», betont Angélique Délèze. Die Kulturchefin und der Kellermeister teilen diese Anschauung: «Es ist gut, sich neu erfinden zu müssen, ich liebe Herausforderungen», erklärt Eddy Dorsaz begeistert. «Ich weiss nicht, ob die Arbeit dadurch komplexer wird, aber auf jeden Fall werden wir aufmerksamer sein müssen.»

Zurück zu den Traubenkisten. Diese hundertste Ernte ist definitiv kein Geschenk. Der Jahrgang 2021 ist ein echter Widerspruch in sich, denn die Ernte fällt umgekehrt proportional zur Arbeit aus. «Am Ende wird es uns ergehen wie 2017, im Jahr des Frostes, als wir 35 bis 40 % weniger Ernte hatten», prophezeit Eddy Dorsaz, «aber die Qualität wird hoch sein», versichert der Kellermeister und gibt sich ebenso zuversichtlich wie die Kulturchefin. 

Das Weingut Grand Brûlé, das unter allen Umständen Spitzenqualität anstrebt, geht mit der Zeit, aber der Geist der Pioniere ist nach wie vor sehr präsent.

 

Am Ende wird es uns ergehen wie 2017, im Jahr des Frostes, als wir 35 bis 40 % weniger Ernte hatten.
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